Das gefällt wirklich Jedermann!
Etliche Straßen für den regulären Verkehr gesperrt. Lauter Polizei an neuralgischen Punkten. Absperrgitter so weit das Auge blickt. Man könnte glatt meinen, ein hoher Staatsgast wäre zu Besuch in Münster. Aber weder vom amerikanischen Präsidenten-Darsteller noch von der Bundeskanzlerin ist irgendwas zu sehen. Auch kein Promi weit und breit. Diese Sonderbehandlung muss mit uns zu tun haben. Denn fast 5000 Jedermänner kurven im Rahmen des Münsterland-Giro am Tag der Deutschen Einheit durch die Stadt – und wir mittendrin.
Gemeinsam mit meinen ASC-Vereinskollegen Torsten Heinemann, Ralf Kläsener, Mike Sandbothe und Thomas Schmidt geht es für mich auf die 65-Kilometer-Strecke. Zum Start um 7.55 Uhr ist es für eine zierliche Figur wie mich mit elf Grad Celsius bei leichtem Wind noch ziemlich frisch. Der Schlafmangel tut ein Übriges. Nicht nur mir ist kalt, während wir in Startblock D darauf warten, dass es endlich losgeht. Die rund 1200 Teilnehmer unseres Rennens werden in sechs Blöcken unterteilt, im Abstand von zwei Minuten von der Leine gelassen. Endlich sind auch wir dran.
Auf den ersten Kilometern sorgt der Fahrtwind dafür, dass die Finger sich noch etwas erfrorener anfühlen als vor dem Rennen. Aber allmählich kommt mein Körper auf Betriebstemperatur. Zum Glück ist es außerdem trocken. Kein Regentropfen fällt vom Himmel. Als die Sonne nach einer Weile zum Vorschein kommt, fängt die Sache an,
Im Vorfeld hatten wir Fünf vom ASC uns darauf verständigt, in der Gruppe zusammenzubleiben – was auch immer passiert. Gesagt, getan – wir ziehen das durch. Als Ralf Kläsener nach etwa 16 Kilometern in Schapdetten die Kette vom Ritzel springt, warten wir anderen wie vereinbart. Als wenig später der Anstieg zum Longinusturm folgt und ich mich fühle wie ein Werbedarsteller für Zeitlupen, ist auch das kein Problem. Die anderen treten einfach nicht ganz so schnell in die Pedale, bis der jeweils Letzte von uns zum Rest aufgeschlossen hat und dies mit einem resoluten „komplett“ lautstark kundtut.
Dieses Szenario wiederholt sich auch an den folgenden Bergen, von denen es regelmäßig von den Zuschauern am Seitenrand heißt, es wäre der letzte. Das ist aber zu verkraften. Wir verbuchen es als psychologische Notlüge, um unsere Motivation nicht zu schmälern. Gemeinsam düsen wir mit durchschnittlich 30 km/h über fein asphaltierte Landstraßen und Bauerschaften. Es geht durch Billerbeck und diverse kleine Dörfer – so viele verschiedene Ecken des Münsterlandes habe ich vorher in so kurzer Zeit noch nie gesehen.
Ab der zweiten Rennhälfte tut mir allerdings der Hintern mächtig weh. Während ich mich immer wieder zwecks kurzzeitiger Entlastung meines Gesäßes aus dem Sattel stemme, reift in mir der Entschluss, mir eine neue Radlerhose mit Einsatz zu Weihnachten zu wünschen. Ich hoffe, das Christkind hat es notiert.
Feierlich wird es aber jetzt schon. Denn „auf den letzten 30 Kilometern haben wir eine große Gruppe mitgezogen“, registriert mein Vereinskollege Ralf Kläsener erfreut. Als Best-of-the-rest führen wir als ASC-Quintett eine echte Meute an – ein cooles Gefühl. Thomas Schmidt, der seine Ankündigung, mit dem Rad nach Münster zu fahren, wahr macht und am Ende des Tages 145 Kilometer auf dem Tacho stehen hat, führt unser Feld gemeinsam mit Ralf Kläsener an.
„Im Windschatten dahinter sind die hohen Geschwindigkeiten kaum zu spüren“, registriert mein Kompagnon Torsten Heinemann. Ich bin darüber ehrlich gesagt ganz froh. Denn allmählich werden die Beine doch etwas schwerer. Aber bald haben wir es geschafft, das gibt noch mal einen Schub.
Die letzten Kilometer gehören zu den schönsten. Von Nienberge aus geht es auf die B54. Keine Autos, nur wir Jedermänner. Vor uns liegt Münster. Ein besonderer Moment. „Absolute Suchtgefahr“, gesteht Mike Sandbothe. Die allerletzten Meter. Angefeuert vom Publikum am Streckenrand rollen wir nach 2:11:05 Stunden durchs Ziel. Mission erfüllt. Wir haben es gemeinsam geschafft. „Das schreit nach einer Wiederholung“, sagt Ralf Kläsener. Wenn mir das Christkind meinen Wunsch erfüllt, ist das 2019 durchaus realistisch – dann aber über die 95 Kilometer. (Von Cedric Gebhardt, veröffentlicht in den Westfälischen Nachrichten)